Ich bin ein Schaf, und wäre ich nicht Bernadette, das bunte Schaf, dann hätte ich wenig Kontakt zu den Menschen. Und manchmal wünschte ich, ich hätte die menschliche Welt mit all ihren Abgründen nie kennengelernt. Zum Beispiel als neulich das Lenchen mit ihren Eltern zu mir kam. Lenchen war total verheult und verzweifelt, denn sie hatte einen großen Fehler begangen: Sie hatte einem fremden Mann Fotos von sich geschickt, und zwar sozusagen mit geschorener Wolle.
Wie hatte das passieren können? Das kann Lenchen heute auch nicht mehr so richtig erklären. Über das Internet hatte sie jemanden kennengelernt. Lenchen ist erst elf Jahre alt, aber sie hat schon ein Smartphone. An dieser Stelle der Erzählung erröten ihre Eltern ein wenig, denn sie wissen inzwischen sehr wohl, dass das Lenchen eigentlich viel zu jung war, um mit so einem Apparat ganz alleine gelassen zu werden. Zuviel Power hat so ein Ding, im Positiven wie leider auch im Negativen.
Der Mann aus dem Internet hatte sich Lenchens Vertrauen erschlichen. Er sei ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, auf das Lenchen seit dem Sommer geht. Bei kleineren Alltagssorgen hatte sich der Fremde als guter Zuhörer erwiesen, und dann kam es: Lenchen sollte ihm ein Foto mit entblößtem Oberkörper schicken! Au weia! Und sie hat das gemacht, weil sich so ein vertrautes Verhältnis zwischen den beiden entwickelt hatte. Geschmeichelt hatte sie sich gefühlt. Bei dem einen Foto sollte es dann aber nicht bleiben. Der angebliche Freund wollte mehr davon. Als Lenchen Panik bekam und sich verweigerte, schickte der Fiesling das erste Nacktfoto an viele Schulkameraden herum, deren Kontaktdaten er sich beschafft hatte.
Damit ging der Terror erst richtig los! Lenchens Schulkameraden haben sie verhöhnt. Mobbing nennen die Menschen das, bei uns Schafen – wisst ihr noch – heißt das Bocking. Das Bocking blieb nicht bei verbalen Attacken. Nein, das Lenchen ist in der Schule neulich mit Klauen und Hufen malträtiert worden. Könnt ihr euch so etwas vorstellen? Ich sage euch, so etwas gibt es bei uns Schafen nicht! Das ist abscheulich!
Nun ist guter Rat teuer. Als Erstes begleite ich das Lenchen und ihre Eltern morgen zur Polizei, denn das, was da passiert, ist strafbar. Und dann muss ein Gespräch mit den Lehrern an Lenchens Schule her. Und das Lenchen selbst? Die hat sich inzwischen die Wolle sehr dicht wachsen lassen. Aber die Wunden auf ihrer Seele, die werden lange Zeit nicht verheilen. Ich will versuchen, sie aufzubauen. Liebe Mädchen und Jungen: Zeigt niemandem Fotos von euch mit geschorener Wolle! Wenn jemand so etwas von euch verlangt, schaltet sofort eure Eltern oder eure Lehrer ein. Die werden dann versuchen, mit Hilfe der Polizei den Wolf im Schafspelz aufzutreiben und zu verjagen!
Eure sehr besorgte Bernadette!